Das Ezidentum ist eine der ältesten Glaubensgemeinschaften Mesopotamiens und reicht zurück bis etwa 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Es ist ein sehr naturverbundener Glaube, in dem die heiligen vier Elemente Wasser, Luft/Wind, Erde und Licht (in Form von Sonne und Feuer) eine besondere Bedeutung und Wichtigkeit haben. Der ezidische Glaube ist monotheistisch, d.h. es wird nur eine Gottheit wahrgenommen. Im Gegensatz zu anderen monotheistischen Religionen, hat diese Gottheit aber keinen Antagonisten, der für das Böse verantwortlich gemacht wird.
Das Menschenbild der Ezid:innen ist davon bestimmt, dass der Mensch für sein Wirken und Handeln selbst verantwortlich ist. Alle Menschen haben von der Gottheit die Gabe des Hörens, des Sehens und des Denkens erhalten und damit die Voraussetzungen, den richtigen Weg zu gehen. Unter den Ezid:innen gibt es die Auffassung, dass ein:e Ezid:in ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein man nicht Ezid:in sein muss. Das kommt daher, dass das Ezidentum keinen Alleingültigkeitsanspruch hat, das bedeutet das es nicht nur eine Wahrheit sondern viele Wahrheiten gibt.
Das Ezidentum hat einen ethnokonfessionellen Charakter, d.h. das es eine nur unter Kurd:innen vorhandene Glaubensgemeinschaft ist. Daher ist das Siedlungsgebiet der Ezid:innen das gleiche wie das der Kurd:innen, nämlich Gebiete im Nordirak, Nordostsyrien (Rojava) und in der Südosttürkei. Das Hauptsiedlungsgebiet befindet sich jedoch im Nordirak v.a. in Şengal und Şêxan. Dort leben etwa 600.000-700.000 Ezid:innen. Es wird geschätzt das es weltweit etwa 1.000.000 Ezid:innen gibt, ungefähr 120.000-180.000 davon leben in Deutschland und sind damit die größte ezidische Gemeinde außerhalb Kurdistans.
Der Tempel in Laliş im Nordirak ist die Hauptpilgerstätte der Ezid:innen. Es wird gesagt, dass dort Şîxadî, der höchste Heilige im Ezidentum, ins Jenseits überging. Jeden Oktober findet dort das einwöchige Fest Cimaya Şêxadî (die Versammlung zu Ehren Şêxadîs) statt.
Neben Laliş gibt es verschiedene andere Pilgerorte um den Berg Şengal. Die größten sind Ziyareta Şerfedîn und Ziyareta Çilmêra. Oft haben diese Orte einen oder mehrere lamellenförmige helle spitze Türme.
Im Ezidentum gibt es verschiedene heilige Tage. Einer davon ist Çarşema Sor (Roter Mittwoch). Çarşema Sor ist am 1. April des ezidischen Kalenders (nach dem gregorianischen Kalender der erste Mittwoch nach dem 13. April). In der ezidischen Mythologie ist es der Tag, an dem die Schöpfung der Erde vollendet wurde. Die Sonnenstrahlen erreichten zum ersten Mal die Erde, so dass sich der Himmel rot färbte. Mit den Sonnenstrahlen kam auch Tawisî Melek (das Oberhaupt der sieben ezidischen Erzengel) erstmals auf die Erde. Daher ist der Mittwoch der Ruhetag der Ezid:innen. Wenn am 1. April die ersten Sonnenstrahlen auf die Erde treffen, beginnt der Frühling und damit das neue Jahr.
Die Festnahme von Marlene Förster und Matej Kavčič durch die irakische Armee geschah am 20. April auf dem Rückweg des Festes Çarşema Sor, über das die beiden Journalist:innen berichten wollten.
Die Geschichte der Ezid:innen ist geprägt von Diskriminierung und Verfolgung. Bisher zählen die Ezid:innen 74 Genozide durch Feinde, die sie zu Ungläubigen erklärt hatten. Die meisten der Genozide fanden während des Osmanischen Reichs statt. Der letzte, noch andauernde Genozid, war 2014 durch den sogenannten Islamischen Staat in Şengal.
Die Ezid:innen waren immer doppelter Verfolgung ausgesetzt, wegen ihrem Glauben aber auch als Angehörige des kurdischen Volkes. Doch sie leisteten Widerstand um ihre Lebensformen, Gebräuche und Kultur nicht aufzugeben.
Die Unterdrückung der Ezid:innen geschah und geschieht einerseits durch offene Gewalt in Form von Massakern, Verschleppungen, Vergewaltigungen, Folter oder die Androhung dieser Gewalt, um sie durch Angst zu vertreiben. Andererseits wurden und werden die Ezid:innen in Şengal durch die arabische Assimilierungspolitik, v.a. die der Baath-Partei in der 1960er und 1970er Jahren, unterdrückt. In dieser Zeit wurden Ezid:innen aus ihren Dörfern im Şengal Gebirge vertrieben und am Fuß des Berges angesiedelt, während in den geleerten Dörfern Araber:innen angesiedelt wurden. Durch die arabischen Dörfer, die so zwischen Rojava und Şengal geschaffen wurden, sollte der Kontakt zwischen den Ezid:innen im Şengal und den Ezid:innen in Rojava unterbunden werden, um die Ezid:innen nach innen hin zu assimilieren. Diese Assimilierungspolitik ging einher mit verschiedensten Repressalien: So war es z.B. den Ezid:innen lange verboten sich auf dem Berg Şengal auch nur aufzuhalten, darauf stand die Todesstrafe.
Dass die Ezid:innen nicht zu anderen Glaubensrichtungen bekehrt werden konnten, liegt an ihren gesellschaftlichen und politischen Mechanismen sich selbst zu verteidigen.
Die Ezid:innen haben verschiedene Schutzmechanismen nach innen hin gegen die Versuche die ezidischen Wurzeln zu vernichten. Da ein:e Ezid:in nur als Kind ezidischer Eltern geboren werden kann, ist es den Ezid:innen nicht erlaubt Andersgläubige zu heiraten. Wenn sie es doch tun, werden sie aus der ezidischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Damit soll erreicht werden, dass die Menschen die ezidische Gemeinschaft nicht verlassen und dem Ezidentum den Rücken kehren.
Aber auch nach außen hin haben die Ezid:innen sich versucht zu schützen. Wegen ihrer vielen Verfolgungen haben die Ezid:innen ihren Glauben nie offen praktiziert, konnten ihn nicht offen praktizieren. Das führte dazu, dass der größte Teil ihrer Geschichte, Glaubensvorschriften, Tradition nur mündlich überliefert wurde. Sie hielten sich immer versteckt, um sich vor Angriffen zu schützen. Durch die Geschichte hindurch haben sich die Ezid:innen bei Angriffen immer wieder in die schützenden Berge zurückgezogen, von wo sie sich aufgrund der Geographie verteidigen konnten.
Nach der Befreiung Şengals vom sogenannten Islamischen Staat haben die Ezid:innen – gemeinsam mit den in Şengal lebenden Kurd:innen, Araber:innen und Christ:innen – begonnen eine auf direkter Demokratie basierende Autonomieverwaltung zu errichten. Diese demokratischen Strukturen umfassen u.a. Volks-, Frauen- und Jugendräte, Schulen und Akademien. Aber auch Strukturen der legitimen Selbstverteidigung gehören zur Autonomieverwaltung. Schon während der Befreiung Şengals wurden die s.g. Widerstandseinheiten Şengals YBŞ und die Frauenverteidigungseinheiten Şengals YJŞ aufgebaut. Auch die Asayîsha Êzîdxanê (polizei-ähnliche Strukturen), die für die Sicherheit der Gesellschaft innerhalb der Städte und Dörfer sorgen, sind Teil dieser Verwaltung. Sie alle tragen die Verantwortung, die Gesellschaft im Şengal vor weiteren Genoziden zu schützen.